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Geld geben ist sehr höflich


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    Ich saß in der U-Bahn auf dem Weg zu meinem Therapeuten Wolfgang G., der, obwohl ich ihn dafür bezahlte, mir zuzuhören, unglaublich schlecht darin war. Da sah ich einen Mann, vielleicht zehn Meter von mir entfernt. Er bat um Geld und war zwar sehr langsam, aber er kam immer näher. Ich wurde nervös, aber kaum merklich, wie ein ganz leises Piepen. Der sich nähernde Mann sah krank aus, seine Haut war genauso grau wie seine Haare, über seinem rechten Auge hatte er eine Platzwunde, die leuchtete, sie konnte nicht alt sein. Die Jeans hatte da, wo vorne der Reißverschluss ist, einen großen Fleck, erst einige Sekunden später begriff ich, dass er sich wahrscheinlich in die Hose gemacht hatte. Beim Laufen knickte sein rechter Fuß zur Seite, so als wäre er eigentlich nur noch durch Haut am Bein befestigt, deswegen ging er auch so langsam. Die Sohlen seiner Turnschuhe hatten sich vorne gelöst, man konnte Teile seiner Zehen sehen, die dunkelrot waren und nicht zu seinem bleichen Gesicht passten. Seine Hand wirkte genauso blutleer, fast bläulich. In ihr sammelte er Geld, aber bisher hatte ich noch niemanden etwas hineinwerfen sehen. Ein paar Leute schüttelten mit dem Kopf, aber die meisten sahen auf ihre Telefone. Wie eigentlich jedes Mal, fragte ich mich, wie es sein konnte, dass hier ein Mann gerade dabei war, vor den Augen aller auseinanderzufallen und sozusagen zu sterben; ich fragte mich, welche Geschichte sich eine Gesellschaft über sich selbst erzählen musste, um aus der Nummer sauber rauszukommen.

    Um den Mann nicht ansehen zu müssen, holte ich mein Telefon aus der Tasche, ein Trick, der außerdem bewirkte, dass ich mich beim Wegsehen nicht so angeguckt fühlte (was natürlich eigentlich keinen Sinn machte, denn es sahen ja alle weg, und insofern war es wahrscheinlich vor allem ich selbst, die sich mit dem Telefon in der Hand weniger streng ansah). Ich hörte den Mann, er murmelte, leise und unverständlich, und dann roch ich ihn auch, so scharf, dass ich sofort den Schal über die Nase zog. Irgendjemand hatte mir mal erzählt, dass Duschen in Hilfseinrichtungen für Menschen, die auf der Straße leben, sehr riskant sei, weil ihnen dort häufig ihre Kleidung geklaut wurde, während sie nackt unter der Dusche standen. Ich überlegte, ob noch Kleingeld in meinem Portemonnaie war, aber ich hatte keine Ahnung. Vielleicht war noch irgendwo ein Zehneuroschein, aber wollte ich den verschenken? Ich schmiss ständig irgendwelches Geld raus, aber einen Schein zu verschenken verstieß gegen irgendein sehr altes Gesetz, das aus den Mündern von Großeltern und Politikern kam, die von Ehre und harter Arbeit redeten. Sie verwendeten außerdem die Formulierung, dass man Geld nicht zum Fenster herauswarf, und diese Redensart kam aus einer ähnlichen Richtung wie die Erklärung, solchen Leuten gebe man nichts, weil sie es eh nur versaufen.

    Ich wischte mich ungeduldig durch eine Vorher-nachher-Bildergalerie zur Entwicklung von Madonnas Gesicht, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass der Mann jetzt vielleicht noch vier, fünf Meter entfernt war. Er war sehr langsam, doch wenn ich rausfinden wollte, ob ich Geld hatte, musste ich spätestens jetzt nachsehen. Denn ich wollte nicht vor ihm mein Portemonnaie rausholen, er würde auf Geld hoffen, und was wäre, wenn ich kein Geld hatte? Wie obszön wäre es, ihm dieses mit Bankkarten, Personalausweis, Mitgliedschaften gefüllte Ding kurz zu zeigen und dann wieder einzupacken, ohne ihm etwas gegeben zu haben. In American Psycho gibt es dieses Missverständnis auch. Patrick Bateman fragt einen vor ihm frierend auf der Straße sitzenden Mann, warum er sich keinen Job sucht. Bateman öffnet seinen Aktenkoffer, der Mann freut sich, und dann bringt Bateman ihn um.

    In vergleichbaren Situationen an diesem Punkt angelangt, fragte ich mich dann regelmäßig, wie ich der betreffenden Person, in diesem Fall dem Mann mit dem kaputten Bein, der immer näher kam – gesetzt den Fall, ich würde feststellen, dass ich Geld hatte –, das Geld übergeben sollte, ohne ihn zu berühren. Meine zweite Frage an mich war, wie ich diese eigentlich ja irrationale Berührungsangst so kaschieren konnte, dass man sie mir bei der Geldübergabe nicht ansah. Dritte Frage: Warum sollte ich diesem Mann Geld geben, aber nicht dem, der zuvor auf dem Boden des U-Bahn-Eingangs gesessen hatte? Ich wollte diese falsche, lächerliche Entscheidungsmacht nicht, sie war ekelhaft, sie überforderte mich. Praktisch war die Geldübergabe bisher nie ein Problem gewesen, es war eine Sache von Sekunden, und kein Mensch interessierte sich dafür, ob ich das Geld in die hohle Hand fallen ließ oder ob ich sie berührte. Nachdem ich Geld verschenkt hatte, freute ich mich dann meistens für einen ganz kurzen Moment (weil ich nett gewesen war, und weil ich mein Nettsein nicht mal nett, sondern selbstverständlich fand).

    Aber dieses Mal nicht. In meine Gedanken verheddert, hatte ich mich hektisch durch verschiedene Bildergalerien gewischt ("Donatella Versace before und after Plastic Surgery"). Als ich den Blick wieder hob, war der Mann schon an mir vorbeigehumpelt.

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    Author: James Mclaughlin

    Last Updated: 1704072482

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