Vor fast genau vier Jahren stand Wolfgang Röhr vor einer Ruine, in der das Regenwasser drinnen die Wände hinunterlief. Aber er spürte sofort: Dieses Schloss, das ist es. Gleichzeitig ahnte er, dass es ein langer, beschwerlicher und sicherlich teurer Weg werden würde, das Herrenhaus der Bernstorffs zu sanieren. Dafür musste er kein Prophet sein, sondern lediglich rechnen können. Was Dr. Wolfgang Röhr, 60, jedoch gelernt hat. Sein Geld verdient er mit der Vermittlung und Vermarktung von Pflegeheimfonds.
Drei Jahre lang war er auf der Suche nach einem Ort gewesen, an dem er seinen Traum verwirklichen wollte. Man könnte auch sagen, dass er ein Gelübde erfüllen wollte: Todkranke sollten die Zeit, die ihnen noch bleibt, an einem friedlichen Ort so frei und so individuell wie möglich nutzen. Mit bester medizinischer Versorgung. Und natürlich Wunschkost. Einem Ort, an dem das Loslassen vom Leben wieder zurück ins Leben integriert wird. „Ich habe es deshalb Biohospiz genannt“, sagt Röhr. „Das griechische Wort ,bios‘ bedeutet ‚leben‘. Das lateinische ‚Hospiz‘ steht für Herberge, Gastfreundschaft und Geborgenheit. Unser Biohospiz wird also im Sinne des Wortes eine Herberge für das Leben sein.“ In dieser Woche war die Eröffnung.
Die ländliche Gemeinde Bernstorf liegt mitten in Mecklenburg-Vorpommern. Im Mittelalter hatte Heinrich der Löwe damit begonnen, die ostelbischen Gebiete zu kolonialisieren. In seinem Gefolge befand sich der Ritter Bernstorp, der diesen fruchtbaren Landstrich für seine Treue als Lehen erhielt. Seine Nachfahren, die Bernstorffs, errichteten hier im Lauf der Jahrhunderte insgesamt drei Herrenhäuser, das dritte und letzte im Jahre 1882. Es ist in rotem Backstein gehalten, im Stil der niederländischen Renaissance, die Fassade ist mit gelbem Backstein sowie mit Sandstein gegliedert. 1945 kam jedoch die Rote Armee. Die Bernstorffs wurden enteignet und vertrieben. Ihr Herrensitz diente fortan als multifunktionales Dorfgemeinschaftshaus: Hier waren das Bürgermeisterbüro untergebracht, die Dorfkneipe, das Postamt, die LPG-Verwaltung, die Kindertagesstätte, Aushilfs-Klassenräume, der Versammlungsraum für die Ortsgruppen der staatlichen DDR-Jugendgruppen sowie ein paar Wohnungen in den oberen Etagen. Doch mit dem Fall der Mauer verfiel das Schloss. 65 Jahre später, Anfang 2010, kam dann Wolfgang Röhr.
Die Bernstorfer waren anfangs misstrauisch, und das nicht ohne Grund. Schon einmal hatten sie schlechte Erfahrungen mit einem Investor aus dem Westen gemacht, eine unangenehme Geschichte, getragen von vielen Hoffnungen, falschen Versprechungen, noch mehr Enttäuschungen und einem Gerichtsverfahren, das über zehn Jahre dauerte. Aber das sei ja jetzt vorbei, zum Glück, sagt Günter Cords. Der 67-Jährige ist seit 20 Jahren Bürgermeister von Bernstorf. Er sei selbst hier noch zur Schule gegangen, erzählt er am Tag der offiziellen Eröffnung am 14. April.
Cords kann sich an der renovierten Fassade kaum sattsehen. „Das Hospiz bedeutet uns sehr viel, denn unser Schloss hat dadurch wieder den Glanz bekommen, den es verdient. Für uns ist natürlich in erster Linie der Erhalt wichtig, und mir kam es schon nach unserem zweiten Treffen so vor, als ob Herr Doktor Röhr sich an alle getroffenen Vereinbarungen halten würde.“ Dazu gehörte auch sein Wunsch, der Investor möge unbedingt die Beiköchin Sabine einstellen, eine echte Bernstorferin, die ihre langjährige Arbeitsstelle als Kantinenköchin verloren hatte. Röhr sah darin kein Problem. Solch eine private Arbeitsvermittlung kam gut an in der Gemeinde, einer strukturschwachen Gegend. „Immerhin haben wir mit dem Bio-Hospiz jetzt schon 14 Arbeitsplätze geschaffen“, sagt Röhr. „Und wenn es dann richtig läuft, werden es wohl so um die 25 werden.“
Von Beginn an hat Röhr die Menschen vor Ort in sein Projekt einbezogen. Ein Beispiel dafür ist Bauleiter Andreas Manske. Der hat schon als junger Klempnerlehrling zu DDR-Zeiten im Schloss die Wasserleitung repariert. Am Ende hatten viele das Gefühl, teilgenommen zu haben am Erneuerungsprozess, und entsprechend voll geparkt war die große Wiese vor dem Schloss am Eröffnungstag. Unter den Gästen waren auch die gräflichen Vorbesitzer und Namensgeber des Schlosses. Sie waren 1991 wieder nach Bernstorf zurückgekehrt, um hier Weizen, Gerste und Raps anzubauen. Ihr Betrieb, eine ehemalige LPG, ist nur einen Steinwurf von ihrem ehemaligen Familiensitz entfernt, ihr Wohnhaus grenzt sogar unmittelbar ans Schlossgrundstück.
Philipp Graf Bernstorff, 42, erzählt, dass seine Eltern, die in ihren frühen Kindheitsjahren noch auf dem Schloss gelebt hatten, auch ein Kaufgebot abgegeben hätten, sie seien aber nicht zum Zuge gekommen. „Dabei war das Gebäude aufgrund der ständigen Nutzung sogar verhältnismäßig gut durch die sozialistische Ära gekommen. Doch nach Beendigung des langjährigen Rechtsstreit mit den neuen Besitzern, war die Sanierung des Schlosses für meine Familie finanziell erst recht kaum mehr realisierbar gewesen“, sagt von Bernstorff. „Insofern stehen wir dem Konzept, das Herr Doktor Röhr jetzt mit dem Hospiz verwirklicht hat, ausgesprochen positiv gegenüber.“ Die einfache Schreibweise „Bernstorf“ führt er auf die Vereinheitlichung des Wortes „Dorf“ in der deutschen Sprache zurück.
Sogar zwei Mitglieder der Landesregierung waren zur symbolischen Schlüsselübergabe aus Schwerin angereist. Es wurden Canapés, Würtschen mit Kartoffelsalat und Rotkäppchen-Sekt gereicht, die musikalische Untermalung hatte das Carl-Orff-Orchester der Kreismusikschule aus Grevesmühlen übernommen. „Dieses Biohospiz ist das erste in Deutschland, und da fühlte ich mich berufen, persönlich zu erscheinen“, sagt Harry Glawe, CDU, Minister für Wirtschaft, Bau und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern. „Ganz abgesehen davon, dass mein Haus das ehrgeizige Projekt mit rund 1,15 Millionen Euro gefördert hat.“ Und da es im Land rund 2000 denkmalgeschützte, erhaltenswerte Schlösschen und Schlösser gäbe, machte der Minister auch keinen Hehl daraus, dass er sich noch viel mehr Investoren vom Schlage eines Wolfgang Röhr wünschen würde, der mit rund 50 Anteilseignern bisher sechs Millionen Euro für dieses Projekt ausgegeben hat.
Glawe betont, dass es bei den Nutzungskonzepten nicht unbedingt immer um Hospize gehen müsse. Was Kollegin Birgit Hesse, SPD, Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales, wiederum als besonders wichtig erachtet: „Dieses Projekt ist für das Land von besonderer Bedeutung, weil erstens ein Schloss wieder zum Leben erweckt wurde“, sagt sie. „Und zweitens, weil hier eben ein Biohospiz entstanden ist, womit sich Herr Röhr zweifellos einer Lebensaufgabe gestellt hat.“ Kerstin Weiss, die stellvertretende Landrätin, freut noch etwas anderes: „Endlich mal wurde ein Schloss nicht zu einem Hotel mit Restaurantbetrieb ausgebaut.“
Die Landrätin teilt zudem ein Schicksal mit dem Investor: Weiss hat ihren Mann durch eine Krebserkrankung verloren, Röhr seine Frau. „Der Chirurg, der meine Frau operiert hatte, verabschiedete sich von uns mit den Worten: Es tut mir sehr leid, aber wir können nichts mehr für Sie tun. Ich wünsche Ihnen alles Gute“, erzählt Röhr. „Ich wollte sie jedoch nicht zu Hause pflegen. Wir waren uns einig, dass unsere vier Kinder nicht hautnah miterleben sollten, wie ihre Mutter langsam zugrunde gehen würde. Doch wir haben seinerzeit keine geeignete Bleibe zum Wohnen mit adäquater medizinischer und pflegerischer Versorgung gefunden, wo auch die Angehörigen wohnen konnten.“ Deshalb beherberge das Hospiz neben seinen 16 regulären Betten auch sieben Hotelzimmer für Angehörige, in denen die Übernachtung lediglich 20 Euro kosten wird. Ein extra gegründeter Förderverein mache dies möglich. Noch fehlen jedoch ein paar Kleinigkeiten, wie Lampen und einige Möbel, auch die Beete im Schlossgarten sind noch nicht fertig bepflanzt. Mitte Mai, schätzt Röhr, könne das Hospiz seine Arbeit aufnehmen. Anmeldungen lägen bereits vor.
Helga Röhling, die zu DDR-Zeiten 21 Jahre lang das Bernstorfer Gemeinde-Postamt im Schloss leitete, staunt über die Veränderungen. „Ich bin ganz überwältigt, was die hier geschaffen haben“, sagt die 75-Jährige. Allerdings kann sie sich nicht vorstellen, hier ihre letzten Tage zu verbringen. „Dafür würden meine finanziellen Mittel bestimmt nicht ausreichen“, sagt sie und seufzt. Als sie erfährt, dass ihre Krankenkasse die Kosten übernimmt, lächelt sie. Für sie hat der Tod ein wenig seinen Schreckens verloren.
Author: Kevin Jimenez
Last Updated: 1704643322
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